Als Vielfahrer bei der Deutschen Bahn bleibt mir nichts erspart. Für die jährliche fällige Bonuspunkte-Prämie muss ich unzählige Katastrophen in Kauf nehmen. So liefert mir die Bahn Themen für meine GFK-Seminare frei Haus. Das ist einerseits nützlich, andererseits teuer erkauft. So wie gestern Abend. Da musste ich lernen, dass es nicht nur Mimikresonanz, sondern auch Anti Mimikresonanz gibt. Lesen Sie, wie sich der große Zauberer Al Weckert durch Anti Mimikresonanz vor einem Zugführer in Luft auslöste. Ein Blog, den nur Vielfahrer der Deutschen Bahn glauben werden.
Kapitel 1: Die Schaffnerin
Ich bin auf dem Rückweg von einem GFK-Basistraining und bis in die Haarspitzen aufgeladen mit dem Glücksgefühl dreier wundervoller Arbeitstage mit liebenswürdigen Kolleginnen (von links nach rechts: Petra Jarmer, Al Weckert, Verena Hutschenreuter, Ulrike Michalski) und quirligen Teilnehmern. Leider verpasse ich den reservierten ICE und muss auf einen anderen Zug ausweichen. Doch welch Glück! Da steht der Sprinter nach Berlin auf dem Bahnsteig. Wahnsinn, dann komme ich ja sogar schneller als geplant nach Hause. Freie Sitzplätze gibt es trotz massenhafter Reservierungen auch noch. Denke ich. Bis die Schaffnerin kommt.
Ich soll aussteigen. Weil ich nicht reserviert habe. Aber es gibt doch freie Plätze. Sie: „Das System sagt, dass der Zug voll ist.“ Ich: Aber dieser Platz ist doch frei und der da auch. Ich sehe sehr verzweifelt aus. Sie entwertet mein Ticket. Ich sehe sie überrascht an: Wieso entwerten sie mein Ticket, wenn ich doch aussteigen soll? Sie: „Sie sind ja im Zug und deshalb entwerte ich ihr Ticket.“ Ich gucke böse: Wie bitte? Gottseidank pfeift das Signal und die Türen schließen sich. Ich frage verblüfft: Und jetzt? Sie antwortet: „Fragen Sie den Zugführer, ob sie mitfahren dürfen“. Ich schöpfe Hoffnung: Wo finde ich den Zugführer? Sie: „Er ist nicht im Zug“. Ich rolle mit den Augen: Wo ist er dann? „In Frankfurt. Steigen Sie dort aus und gehen Sie zu Abteil 8. Dort steht er.“ Mit diesen Worten geht die Schaffnerin weiter.
Anti Mimikresonanz Grundsatz Nr. 1
Bis hierhin folgt das Verhalten der Schaffnerin dem Anti Mimikresonanz Grundsatz Nr. 1 für Anfänger: Ignorieren Sie jede Gefühlsäußerung Ihres Gegenübers. Reagieren Sie auf keine mimischen Signale. Versuchen Sie auf keinen Fall die Bedürfnisse Ihres Gegenübers zu verstehen oder auf emotionale Signale wie Hilflosigkeit oder Ärger einzugehen.
Kapitel 2: Der Zugführer
Aber das alles geht noch krasser. In Frankfurt springe ich mit meinem Koffer aus dem Abteil und eile zu Abteil 8. Überraschung! Dort steht niemand. Ich treffe den Zugführer bei Abteil 6 im Gespräch mit einem anderen Bahnangestellten. Ich stelle mich höflich dazu, klimpere mit den Augen und warte, dass mich jemand bemerkt. Keiner der beiden beachtet mich. Die Zeit tickt. Nach einer Minute stelle ich mich genau vor den Zugführer und versuche angestrengt Augenkontakt zu bekommen. Obwohl ich keinen Meter entfernt vor ihm stehe, mit dem Kopf hin und her wackle und mich dabei auf Zehenspitzen stelle, reagiert der Zugführer mit keinem Wimpernzucken.
Ich frage: Sind Sie der Zugführer? Keine Antwort. Jetzt verstehe ich. Durch das GFK-Training habe zur Erleuchtung gefunden und mich in Luft aufgelöst. Ich bin entmaterialisiert. Ein irres Gefühl. Als der Zugführer in den Zug einsteigen möchte, stelle ich mich ihm in den Weg. Ich bin wohl doch noch da, denn er bellt mich an: „Was wollen Sie?“ Ich äußere eine sehr konkrete Bitte: Ich habe keine Reservierung. Darf ich trotzdem mitfahren? Er geht an mir vorbei: „Das kostet 19 Euro extra.“ Weg ist er. Ich vermute, das heißt: Ja!
Anti Mimikresonanz Grundsatz Nr. 2
Anti Mimikresonanz Grundsatz Nr. 2 für Fortgeschrittene: Viel praktischer als die Nichtwahrnehmung eines mimischen Signals ist die Nichtwahrnehmung der ganzen Person.
Kapitel 3: Return of the Schaffnerin
In meinem neuen Abteil gibt es viele einzelne freie Plätze. Ich setze mich zu einigen jungen Männern an einen Tisch. Eine Russin setzt sich mir gegenüber. Nach wenigen Minuten kommt die Schaffnerin. Sie bittet die Russin um ihr Ticket. Sie hat keins. Die Schaffnerin will sie des Zuges verweisen. Doch die Russin kann nachweisen, dass sie vor wenigen Minuten im Service Center der Bahn versucht hat, eine Reservierung zu tätigen. Der Computer hat gesagt, der Zug wäre voll. Der Zug ist aber nicht voll. Die Schaffnerin muss zähneknirschend ein Ticket ausstellen. Der Nachbar der Russin hat zwar ein Ticket, aber keine Reservierung. Entnervt stellt die Schaffnerin ihm eine Reservierung aus. Vielleicht traut sie sich die Nummer mit dem Zugverweisen nicht mehr, wo doch zu offensichtlich Plätze frei sind.
Als der junge Mann elektronisch bezahlt hat, fragt er: „Warum muss ich einen Aufschlag auf die Reservierung bezahlen, wenn ich doch gestern versucht habe zu reservieren und das System es nicht akzeptiert hat? Wenn jetzt Plätze frei sind, dürfen sie mir doch eigentlich nur eine normale Reservierung in Rechnung stellen.“ Die Schaffnerin guckt verschämt zu Boden. Er hat Recht. Die nächsten zehn Minuten vergehen mit Storno, diversen Unterschriften und noch mehr Quittungen bis der Fall geregelt ist. Die Russin gegenüber nutzt diese Phase, um die Schaffnerin mit Fragen zu überschütten, warum sie denn jetzt als Einzigste die Extragebühr zahlen musste.
Auch der dritte Sitznachbar behauptet plötzlich, er habe gestern schon zu reservieren versucht. In der Aufregung verkauft die Schaffnerin ihm eine reduzierte Reservierung, vergisst aber dabei, dass er überhaupt kein Ticket hat. Er zahlt nur die Reservierung und spart 60 EUR Fahrpreis. Dann ist die Schaffnerin weggegangen und nicht mehr wiedergekommen. Muss ich noch erwähnen, dass ich also überhaupt keine Reservierung bezahlen musste?
Wie es weiterging…
Ein paar Minuten später hat sich jemand auf der Strecke das Leben genommen und uns wurde erklärt, dass der Sprinter (Sie erinnern sich: das ist der schnelle Zug mit Aufpreis und Reservierungspflicht) heute ein paar Stunden später in Berlin ankommt. Außerdem ist wegen irgendeiner Störung der Speisewagen geschlossen worden. Dafür wurde ein Notverkauf im Abteil geöffnet. Mein Nachbar versuchte dort etwas zu kaufen. Leider ging das nicht. Der Bahn-Steward, der Geld annehmen durfte, hatte in Hannover Feierabend gemacht. Es gab jetzt zwar noch einen Verkaufsstand mit Angestellten und diversen Waren, dort durfte aber nichts mehr verkauft werden, weil… Ach, weil ich einfach Vielfahrer der Deutschen Bahn bin.
Demnächst erzähle ich, wie mich ein Zuführer vom Vorhandensein eines nicht vorhandenen Mülleimers überzeugen wollte, wie ich in den Schienenersatzverkehr gesteckt und mit Tempo 200 durch eine Baustelle mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 befördert wurde und wie eine Schaffnerin mit körperlicher Gewalt zu verhindert versuchte, dass ich einen fast leeren Zug betrete, für den ich eine Reservierung hatte. Nichts davon ist gelogen. Ich schwöre auf Giraffe und Wolf.