Der Strohmann – Woody Allen feiert die Freiheit der Wahl

Als ich den Film Der Strohmann (The Front) mit Woody Allen in der Hauptrolle das erste Mal im Kino sah, rollten mir Tränen der Verzweiflung und der Trauer über beide Wangen. Der Strohmann führt ein System vor, in dem Menschen erst gedemütigt und ökonomisch an die Wand gedrängt werden, um sie dann zum gegenseitigen Verrat zu nötigen. Es geht jedoch weder um die Sowjetunion oder Nazideutschland, sondern um die US-Filmindustrie der 50er Jahre, auf dem Höhepunkt des kalten Krieges. Woody Allen spielt den Glücksritter Howard Prince, der für Drehbuchautoren, die wegen „antiamerikanischer Umtriebe“ auf der schwarzen Liste stehen, als Strohmann Drehbücher an die Filmindustrie verkauft. Als die schwarze Liste das erste Todesopfer fordert, versucht Strohmann Price das System auszutricksen.

Dylan Farrow, die Tochter von Woody Allens Lebensgefährtin Mia Farrow, klagt Woody Allen in der New York Times des sexuellen Mißbrauchs an. Da sexueller Mißbrauch von Kindern und das Wegschauen der Gesellschaft gegenüber sexuellem Mißbrauch ein wichtiges Thema ist, verlinke ich hier auf das Schreiben von Dylan Farrow.

Woody Allen reagierte in der selben Zeitung auf diesen Text. Seinen Kommentar und die darin enthaltenen Vorwürfe gegenüber Mia Farrow finden Sie hier.

Der Strohmann – ein merkwürdiges Verständnis von Freiheit

Der Film Der Strohmann (The Front) bezieht sich auf tatsächliche Ereignisse, die sich in den 50er Jahren in Hollywood abgespielt haben. Die Hauptdarsteller (außer Woody Allen) standen alle selbst einmal auf der schwarzen Liste für „antiamerikanische Umtriebe“. Auf diese Liste geriet man, wenn man einer Partei der Linken angehörte, an einer Demonstration teilgenommen hatte, eine linke oder linksliberale Zeitung abonnierte oder eine Freundin oder einen Freund hatte, die oder der mit liberalen oder linken Ideen sympathisierte. Das Komitee zur Überprüfung „antiamerikanischer Umtriebe“ erfasste Schauspieler, Regisseure, Produzenten und Drehbuchautoren. Wer auf der Liste stand, durfte automatisch nicht mehr an der Filmindustrie mitwirken.

Paradoxer Weise nennt sich das Büro von Francis X. Hennessey, dem Vorsitzenden des Komitees zur Aufdeckung “antiamerikanischer Umtriebe“ „Freedom Information“. Hinter der Bürotür der „Freedom Information“ werden Menschen systematisch eingeschüchtert und unter Druck gesetzt, um ihnen Informationen zu entlocken. Wer keine Informationen liefert, verliert seine Arbeitserlaubnis. Der Satz „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ wird in sein Gegenteil verkehrt.

Der Strohmann – kein typischer Woody Allen-Film!

Der Strohmann (The Front) ist einer der wenigen Filme mit Woody Allen, bei  dem Allen nicht selbst Regie führt. Deshalb reden Allen und die weibliche Hauptdarstellerin Andrea Marcovicci auch nicht so viel und so wirres Zeug wie in anderen Allen-Filmen. Regisseur Martin Ritt setzt auf knackige Pointen und eine Balance aus Komödie und Drama. In den Verhörszenen in Hennesseys Büro wird es auf ekelerregende Art und Weise ernst. In anderen Szenen ist Allen auf eine so trockene Art witzig, dass es Groucho Marx zur Ehre gereicht. „Haben Sie schon in der Schule geschrieben?“, wird der Strohmann im Film gefragt. Seine Antwort: „Ich glaube, ich musste das sogar.“

Sie kennen einen Film, der wunderbar in meinen Blog passen würde? Schreiben Sie mich einfach an! Ich freue mich auf Ihre Mail!

Der Strohmann – doch ein typischer Woody Allen-Film?

In mehreren Punkten ist Der Strohmann dann aber doch typisch Woody Allen. Er zeigt New York beim ersten Kuss vor der Brooklyn Bridge, die konspirativen Drehbuchübergaben auf den Straßen Manhattans, der Deal im großstädtischen Ambiente des Schachkaffees, die Buchhandlungen. Und natürlich spielt das jüdische Künstlermilieu und die jüdische Familie, aus der Strohmann Price stammt, eine Rolle. Am deutlichsten kommt die jüdische Künstlertradition aber in der Chuzpe zum Ausdruck, mit der Strohmann Price das Komitee ins Leere laufen lassen will. Hier haben wir den kleinen Mann, der sich wie David gegen das große System stemmt.

Chuzpe – Der Strohmann und die jüdische Tradition

„Chuzpe ist, wenn ein Mann seinen Vater und seine Mutter umbringt und beim Richter um mildernde Umstände bittet, weil er Vollwaise ist.“

Nachdem Strohmann Price zusehen muss, wie die Verhörtechniken Hennesseys dazu führen, dass Künstlerkollege Hecky Brown (gespielt von Zero Mostel) (1) den Job verliert, schwach wird und sich (2) in einen Spitzel verwandelt (um wieder arbeiten zu dürfen), nur um sich schließlich (3) vor Scham und Niedergeschlagenheit das Leben zu nehmen, gerät seine Selbstsicherheit als Profiteur der Situation ins Wanken. Strohmann Price plant dem System die Stirn bieten und in guter alter jüdischer Tradition und mit unwiderstehlicher Dreistigkeit vor dem Komitee für antiamerikanische Umtriebe so lange um den heißen Brei drum herum zu reden, bis das Komitee aufgibt. Leider hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Komitee hat herausbekommen, dass der Strohmann in der Vergangenheit illegale Sportwetten angenommen hat. Jetzt heißt es: Ab ins Gefängnis oder kooperieren. Alles steht auf dem Spiel: Seine Liebe, sein tolles neues Appartement und sein Sozialprestige als Branchenstar.

Der Strohmann wird zum Held

Als sein Anwalt ihm schließlich dazu rät, wenigstens einen einzigen Namen (den des verstorbenen Schauspielerkollegen Brown) zu denunzieren, merkt Strohmann Price, dass es etwas gibt, was ihm noch wichtiger ist als der Erfolg: seine moralische Integrität. Er sagt dem Komitee das, was er sich von allen anderen Kollegen ebenfalls als Antwort auf die Aktivitäten Hennesseys gewünscht hätte: „Wisst ihr was Leute? Ihr könnt mich alle am Arsch lecken!“ (You can all fuck yourselfs!) Der kleine Glücksritter und ehemalige Strohmann Howard Price wandert ins Gefängnis und wird zum Held, weil er sich anders als Hecky Brown für die Freiheit der Wahl entschieden hat.

Links zum Film Der Strohmann

Der Film Der Strohmann (The Front) bei Wikipedia

Kritiken zu Der Strohmann