GASTBLOG VON REGINE RACHOW (CHEFREDAKTEURIN DER ZEITSCHRIFT “KOMMUNIKATION & SEMINAR”): Ich liebe Texte, bei deren Lektüre ich etwas erlebe. Die mir gewissermaßen einen Blick über die Schulter der Autorin, des Autors gestatten. Und hier folgt die Geschichte einer guten Geschichte. – Post von L. Seinen Namen erkenne ich sofort im Maileingang. Hallelujah! Dafür lohnt sich’s aufzustehen. Wenn ich Glück hab, schickt er einen seiner Artikel, die ich besonders gern lese und veröffentliche. Sie besitzen immer ein gewisses … Doch halt, ich greife der Geschichte voraus.
Auf der Suche nach Geschichten.
Wer sich je darüber wunderte, dass stets gerade so viel geschieht, wie in eine Zeitung passt, dem sei gesagt: Der Schein trügt. In Wirklichkeit passiert viel weniger. Damit keine Seite frei bleibt und keine Sendeminute in peinlicher Stille verstreicht, beauftragen Verlage und Sender RedakteurInnen damit, Geschichten aufzuspüren. So sind wir unentwegt auf der Suche nach Themen und Autoren. Und eben: nach guten Geschichten. Als ich vor sieben Jahren auf das unwiderstehliche Angebot des Junfermann Verlags einging und die Redaktion des KS-Magazins „Kommunikation & Seminar“ übernahm, merkte ich bald: Hier läuft etwas anders. Mein elektronischer Postkasten begann sich schon bald mit Briefen potenzieller Autorinnen und Autoren zu füllen. Allesamt, wie sie das Magazin braucht, Kommunikations-Profis, unterwegs in Training, Coaching, Beratung oder Therapie. Sie kamen also von selbst, und das tun sie noch immer. Und sie bringen ihre Geschichten gleich mit. Was für ein Luxus.
Starke Sätze ziehen in den Text.
Zwei Klicks und ich beginne L.’s Text zu lesen: „Ketchup oder Mayo?“ „Ketchup!“ Noch bevor ich ans Zahlen kam, entdeckte ich im hinteren Teil der Burger-Braterei diese Pappdeckelkronen, die mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultierten. An guten Tagen üben die ersten Sätze der Artikel von AutorInnen einen Sog auf mich aus. Ich höre nicht mehr auf zu lesen. L. ist Coach und Trainer. Gewöhnlich schreibt er über seine Vorgehensweise im Coaching. Über seine konkrete Erfahrung mit einer ganz bestimmten „Methode“ oder mit einer bestimmten Art von „Thema“, das seine Klienten in die Sitzung mitbringen. L. tut dies kurz und bündig und dabei so offen und lebendig, dass ich beim Lesen über seine Schulter schauen kann. Ich erlebe mit, was er und sein Klient, seine Klientin da gerade erfahren. Es gibt einige unter meinen AutorInnen, die das ähnlich beherrschen wie L., und ich gebe zu: Die Arbeit mit solchen Artikelschreibern ist hohes Vergnügen.
Vorhang auf.
Diesmal ist L.s Geschichte anders ist als sonst. Länger, viel länger, und sie handelt von einem Selbstversuch: Der Autor verbringt die Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges bei Burger King am Münchener Hauptbahnhof. Dabei entdeckt er jene Pappkronen, offenbar ein Werbegag für Kinder. Er greift sich eine solche Krone, zögert ein wenig. Noch bevor er sein Menü verspeist hat, sitzt die Krone auf seinem Kopf. Er wird sie nun einen halben Tag lang tragen, bis zu seiner Ankunft in Koblenz. Im Artikel schildert L., wie es ihm während dieser, nun ja, Übertretung seiner Schamgrenze erging – innen wie außen. Wenn die Tage so laufen, wie dieser hier, dann sitze ich als Redakteurin wie auf einem Logenplatz im Theater. Ich klicke auf den Anhang einer Autoren-Mail und der Vorhang hebt sich. Mein Blick fällt auf das Setting einer Coachingsstunde, auf die Teilnehmerrunde eines Seminars, und ich darf den Profis bei ihrer Arbeit zusehen. Oder dabei, wie sie – reflektiert und präzise – über einen bestimmten Aspekt ihrer Arbeit nachsinnen.
Transparenz für eine oft gescholtene Branche.
Ich nenne die Arbeit dieser Trainer, Coaches, Berater und Therapeuten Veränderungsarbeit mit Menschen. Denn ihre Klienten gehen aus der Begegnung mit ihnen verändert hervor. Im besten Falle mit einer Idee, wie sie eingefahrene Gleise verlassen könnten. Wie sie wieder ins Lot kommen. Wie sie Verantwortung für sich übernehmen und wieder Freude empfinden können. Indem die AutorInnen des KS-Magazins darüber berichten, schaffen sie Transparenz in einem Bereich, dessen Darstellung in den Leitmedien dieser Republik noch stets zwischen Hohn und Heilserwartung chargiert. Und in den Sternstunden meines Redakteurinnen-Daseins darf ich sie, die ExpertInnen für die mentale und psychologische Seite der Kommunikation, selbst als verletzliche Wesen erleben. Wenn sie ihre menschliche, ihre berührbare Seite offenbaren. Jenen Punkt, an dem sie ihren Coachees, Klienten, Kunden, Patienten sehr nahe sind.
Aufrecht durchs Leben.
L. also macht sich, obenauf die Pappkrone des Fastfood-Anbieters, auf seinen Weg zum Zug – in der Hauptreisezeit, quer durch den Münchener Bahnhof. Und schämt sich zunächst ins Bodenlose. Dann legt er sich einen Schutzpanzer zu: Er lächelt. Irgendwann spürt er die Krone nicht mehr. Doch er merkt, sie hilft ihm, das Haupt aufrecht zu tragen. Im Zug befragt ihn u.a. ein junger Mann, Student wie sich herausstellen wird, über seinen Anputz – nach verstohlenen Blicken und einigem Hin- und Herlächeln. L. denkt sich eine märchenhafte Geschichte aus und auch einen Namen: Kakatete, königlicher Kronen-Test-Träger. Seit diesem Selbstversuch, so schreibt L. am Ende seines Artikels, betritt er seine Seminare hin und wieder mit der Krone auf dem Kopf. Zum Beispiel die Gruppentherapie mit adipösen Frauen, die er begleitet. Dann tuscheln diese Frauen, die einhundert und mehr Kilogramm mit sich herumtragen, manche lachen, andere reagieren unbeholfen oder verständnislos. Womit ziehen Sie die Blicke auf sich? Wie geht es Ihnen damit? Darum wird es dann in der Runde gehen. Und auch um das Wertvolle, das Königliche an uns. Das, was uns als Menschen ausmacht. Und was wir bisweilen erst erkennen, wenn wir uns jenseits unserer gewohnten Rollen bewegen.
Was zählt, ist der Moment des Erlebens.
Manchmal schicken mir AutorInnen gar keine Texte, sondern eine Frage. Sie möchten gern einen Artikel im KS-Magazin veröffentlichen. Zu welchem Thema sie wohl schreiben dürften? Ich frage meist zurück: Was haben Sie in jüngster Zeit in Ihrem Job erlebt? Was davon bewegt Sie noch heute? Und wiederum welcher Aspekt davon treibt Sie so sehr um, dass Sie unbedingt darüber berichten wollen? So sichere ich dem KS-Magazin Neuigkeiten. Denn dass das Publikum etwas Neues erfahre, zählt überall auf der Welt zu den wichtigsten Kriterien einer Veröffentlichung. Auch wenn wir glauben, alles schon zu kennen – die konkrete Erfahrung eines Menschen in einem ganz bestimmten Zusammenhang stellt etwas Einzigartiges dar. Und wenn ich es unverwechselbar zu beschreiben vermag, dann ist es wirklich neu.
(c) Regine Rachow, Journalistin, Chefredakteurin des KS-Magazins „Kommunikation & Seminar“, herausgegeben vom Junfermann Verlag
Links zu Regine Rachow, Kommunikation & Seminar, Junfermann-Verlag und Horst Lempart
Hier geht es zum Magazin Kommunikation & Seminar … Der Artikel von Horst Lempart erschien im KS-Magazin, Ausgabe 1/2013 unter dem Titel „Die Geschichte vom König Burger“. Bilder (c) Regine Rachow, Junfermann Verlag