Emotionen: Was die Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Pseudogefühlen im Konflikt bewirkt
von: Al Weckert
in: Spektrum der Mediation, Ausgabe 44 / IV. Quartal 2011 (Dezember 2011)
Das Nadelöhr bei der Bewältigung eines Konflikts ist der Moment, in dem zwischen Streitparteien wechselseitig Verständnis für die Bedürfnisse des anderen entsteht. Was aber, wenn immer wieder starke Gefühle zu gegenseitigen Schuldzuweisungen, Abwertungen, Angst oder Resignation führen? Als Supervisor erlebe ich zahlreiche Mediationen, in denen das Mediationsteam perfekt erfassen und aussprechen kann, worum es den Streitparteien auf der Ebene der Bedürfnisse geht. Trotzdem wollen die Beteiligten nicht von ihren Positionen abrücken.
Das Feedback der Konfliktparteien zeigt, dass Menschen nur schwer auf eine intellektuelle Ebene umschalten können, wenn ihre Gefühle vorher nicht klar erfasst und benannt werden. Durch das Anerkennen von Gefühlen entsteht intuitiv Sicherheit und Verbindung, was zu Stressverminderung und steigender Aufmerksamkeit führt. Bei diesem Prozess ist die Unterscheidung zwischen echten Gefühlen und Pseudogefühlen wegweisend. Die Wiederholung von Pseudogefühlen führt auf geradem Weg in die Verstrickung, das Benennen von echten Gefühlen zu wachsendem Verständnis und Respekt
Gefühle lassen sich nicht willentlich kontrollieren
Seit über 40 Jahren geht der Emotionsforscher Paul Ekman der Frage nach, ob Gefühle sich von Kultur zu Kultur unterscheiden. Seine Forschungen zeigen, dass Gefühle universell sind. Selbst ihr spontaner mimischer Ausdruck ist überall auf der Welt der Gleiche. Lassen sich Gefühle kontrollieren? Seine Antwort: Weltweit beweist keine einzige Studie, dass sich emotionale Programme willentlich unterdrücken lassen. Jeder Gedanke, jede Handlung und jede Begegnung ist mit Gefühlen assoziiert. Im Konflikt handelt es sich meistens um starke unangenehme Gefühle. In dem Moment, wo unser Gegenüber handelt oder spricht, werden kurz unkontrollierbare Gefühle bei uns ausgelöst. Wissenschaftler nennen diesen Zeitraum »Refraktärphase«.
Beeinflussen lässt sich die Länge der Zeitspanne, die wir unter dem Einfluss starker Gefühle verbringen. Sie dauert mindestens den Bruchteil einer Sekunde. Wenn die Auslöser wiederholt stimuliert werden, kann sich die Phase verlängern. Das Mediationsteam unterbricht diesen Teufelskreis, wenn es die Auslöser (meistens gegenseitige Vorwürfe) in die dahinterliegenden Anliegen übersetzt. Entscheidend für die Qualität des Übersetzungsvorgangs ist, dass nicht nur Bedürfnisse, sondern auch die dazugehörigen Gefühle benannt werden. Starke Gefühle wirken bedrohlich, solange sie für die andere Streitpartei als Gefahr eingestuft werden. Die erzeugte Angst verhindert gegenseitiges Verständnis.
Starke Gefühlsäußerungen sind »Gold in schmutziger Verpackung«
Wenn eine Konfliktpartei vor Wut auf den Tisch haut und »Scheiße! Du hast mich bei diesem Projekt hängen lassen« brüllt, kann das beim Gegenüber Ohnmacht oder Gegenwehr auslösen. Gleichzeitig ist die versteckte (indirekt geäußerte) Gefühlsbotschaft Gold wert. Wenn es dem Mediationsteam gelingt, die enthaltene Ich-Botschaft zu entschlüsseln, profitiert die gesamte Gruppe von dem Erkenntnisgewinn. Ist die Streitpartei wütend, weil ihr innerhalb eines Projekts die Unterstützung der Kollegen fehlt, kann das Mediationsteam genau diesen Punkt und den damit verbundenen inneren Zustand benennen: »Sind sie wütend, weil Sie sich Unterstützung wünschen?« Häufig müssen solche
Aussagen erst drastifiziert werden, bis man die wirkliche Stimmung trifft: »Sind sie stinksauer? Sind sie völlig außer sich, weil sie sich bei der Projektarbeit allein fühlen? Wünschen sie sich, dass das heute wirklich einmal gesehen wird?«
Der Gehirnforscher Joachim Bauer beschreibt, was sich in solchen Momenten in den unterschiedlichen Gehirnregionen abspielt. Alle Beteiligten, sowohl die Streitparteien wie auch das Mediationsteam, sind über Spiegelneurone dazu fähig, die Not des Sprechers innerlich zu simulieren. Voraussetzung ist, dass sie nicht aufgrund von Angst diese Fähigkeit zur Simulation abgeschaltet haben. Indem das Mediationsteam immer wieder gegenseitige Schuldzuweisungen unterbricht und in die dahinterliegenden Ich-Botschaften übersetzt, schafft es bei den Streitparteien die Vorbedingungen für innere Simulation und damit verbundenes intuitives Verständnis. Genau darum geht es: Intuitives Verständnis ist die universelle Währung, mit der jeder Veränderungsprozess, alles Wachstum und jede gegenseitige Annäherung gepowert wird
Verstrickungsprozesse durch Pseudogefühle
Pseudogefühle sind Gefühlswörter, die ein Täter-Opfer-Szenario bestätigen und die Streitparteien immer weiter auseinander treiben. Mindestens 80 Prozent aller Sätze, die mit der Wendung »Ich fühle mich … « beginnen, enden mit einer Schuldzuweisung: »Ich fühle mich über den Tisch gezogen.« »Ich habe das Gefühl, dass mich keiner hier ernst nimmt.« Wenn das Mediationsteam solche Redewendungen zitiert, stößt es voll in die Wunde der Beschuldigten: »Frau Meier, sie fühlen sich also in die Ecke gedrängt und möchten, dass Herr Müller aufhört sie zu schneiden?« Durch solche Äußerungen verstrickt sich das Mediationsteam mit der anklagenden Partei verbal in ein Richtig-Falsch-Denken und in einen Opfer-Mythos. Der Beschuldigte weitet seine Gegenwehr und sein innere Aggression unbewusst auf das Mediationsteam aus.
Woran wir echte Gefühle erkennen
Echte Gefühle erkennt man an folgenden Merkmalen:
> Jeder Mensch – auch ein Baby kann sämtliche Gefühle erleben. Machen Sie bei Unsicherheit einfach den »Babytest«: Wenn ein Wickelkind es nicht empfinden kann, handelt es sich wahrscheinlich eher um einen Gedanken als um ein Gefühl.
> Gefühle sind körperlich spürbar. Mutlosigkeit lähmt den Organismus, Nervosität drückt sich durch Kribbeln aus. Wenn Sie es nicht körperlich spüren, sind Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in Gedanken, nicht in Ihrer Gefühlswelt.
> Echte Gefühle drücken keine Täter-Opfer-Beziehung (»Ich bin verletzt -du bist schuld!«), sondern zunächst eine reine Ich-Botschaft aus (»Ich fühle mich angespannt«).
Was unterscheidet Primärgefühle, Sekundärgefühle und Pseudogefühle?
Primärgefühle sind echte Gefühle, die sich körperlich ausdrücken und in einer Ich-Botschaft ausgesprochen werden können. Sie können von allen Menschen – auch von Babys – empfunden (und neuronal gespiegelt) werden.
Sekundärgefühle sind Gefühle, die durch eine bestimmte Art zu Denken hervorgerufen werden. Wut, Ärger, Hass, Scham, Schuld, Niedergeschlagenheit und verwandte Begriffe beinhalten den Gedanken, dass jemand anderes nicht okay ist oder dass ich selbst nicht okay bin. Trotzdem kann man diese Gefühle deutlich im eigenen Körper spüren. Sekundärgefühle sind also ein Zweikomponentenkleber« aus Primärgefühlen und Gedanken.
Pseudogefühle drücken lediglich aus, was ich über das Verhalten anderer denke bzw. wie ich deren Verhalten bewerte. Hinter Pseudogefühlen verbergen sich oft Sekundärgefühle.
In der Mediation arbeiten wir mit Primär- und Sekundärgefühlen. Manchmal ist spontan nicht erkennbar, welche Primärgefühle sich hinter Sekundärgefühlen verstecken. Scham kann mit starken Tabuthemen verbunden sein. Es ist keinesfalls hilfreich, wenn das Mediationsteam Druck auf sich oder die Streitparteien ausübt, um alle .Primärgefühle zu erhellen. In einer Mediation lässt sich auch mit Sekundärgefühlen produktiv arbeiten.
Wenn die Streitparteien allerdings durch zunehmendes Vertrauen und wachsende Selbsterkenntnis spontan aussprechen, was sie hinter ihrer Wut oder ihrer Schuld an ursprünglichen Gefühlen erleben, kann das Mediationsteam diese Öffnung und diesen Erkenntnisgewinn als wesentlichen Erfolg für die Beteiligten verbuchen . Jetzt ergeben sich für das Verständnis der Bedürfnisse und für tragfähige Lösungen Möglichkeiten von besonders hoher Qualität.
Mein Vorschlag für einVokabular echter Gefühle
Man kann über die Abgrenzung echter Gefühle endlos streiten, außerdem wird eine Liste nur eine Auswahl von Wörtern wiedergeben . Die vorliegenden Gefühlswörter habe ich im Abgleich mit Fachpublikationen, eigenen Erfahrungen und im Diskurs mit Kolleginnen erstellt. Sie unterscheidet nicht zwischen positiven und negativen, sondern zwischen angenehmen und unangenehmen Gefühlen. Mit dem Wort »negativ« assoziieren viele Menschen eine Bewertung. In Konflikten sind Gefühlsäußerungen jedoch grundsätzlich hilfreich und willkommen, auch wenn sie als unangenehm empfunden werden.
Angenehme Gefühle
angeregt, aufgedreht, aufgeregt, ausgeglichen, befreit, begeistert, behaglich, belebt, berauscht, beruhigt, berührt, beschwingt, bewegt, dankbar, eifrig, ekstatisch, energetisiert, engagiert, enthusiastisch, entlastet, entschlossen, entspannt, entzückt, erfreut, erfrischt, erfüllt, ergriffen, erleichtert, erstaunt, erwartungsvoll, fasziniert, frei, friedlich, froh ,fröhlich, gebannt, geborgen, gefesselt, gelassen, gerührt, gesammelt, gespannt, gesund, glücklich, gutgelaunt, heiter, hellwach, hoffnungsvoll, inspiriert, klar, kraftvoll, lebendig, leicht, locker, lustig, motiviert, munter, mutig, neugierig, optimistisch, ruhig, sanft, satt, schwungvoll, selbstsicher, selig, sicher, sorglos, still, stolz, überglücklich, überrascht, überwältigt, unbeschwert, vergnügt, verliebt, vertrauensvoll, wach, weit, wissbegierig, zärtlich, zufrieden, zugeneigt, zuversichtlich
Unangenehme Gefühle
In meinen Ausbildungen arbeite ich zunächst nur mit wenigen Gefühlsbegriffen, um einen schnellen Trainingseffekt zu erzielen. Dieser Wortschatz lässt sich Schritt für Schritt erweitern.
alarmiert, angespannt, ängstlich, apathisch, ärgerlich, aufgeregt, ausgelaugt, bedrückt, besorgt, bestürzt, betroffen, betrübt, beunruhigt, bitter, blockiert, deprimiert, durcheinander, eifersüchtig, einsam, elend, empört, enttäuscht, ernüchtert, erschlagen, erschöpft, erschrocken, erschüttert, erstarrt, frustriert, furchtsam, gehemmt, geladen, gelähmt, gelangweilt, genervt, hart, hasserfüllt, hilflos, in Panik, irritiert, kalt, kraftlos, leer, lethargisch, matt, miserabel, müde, mutlos, nervös, niedergeschlagen, ohnmächtig, panisch, perplex, ratlos, resigniert, ruhelos, sauer, scheu, schlapp, schüchtern, schwer, schwermütig, sorgenvoll, teilnahmslos, tot, träge, traurig, überwältigt, unbehaglich, ungeduldig, unglücklich, unruhig, unsicher, unter Druck, unwohl, unzufrieden, verbittert, verspannt, verwirrt, verzweifelt, widerwillig, wütend, zappelig, zornig
Pseudogefühle
Sogenannte »Pseudogefühle« sind in Wirklichkeit keine Gefühle, sondern in Gefühlsformulierungen verpackte Gedanken, Schuldzuweisungen, Anklagen, Vorwürfe und Interpretationen. Pseudogefühle werden manchmal auch als Interpretationsgefühle, Nicht-Gefühle, Wolfsgefühle oder Tätergefühle bezeichnet.
Nachfolgende Ausdrücke werden besonders häufig als Pseudogefühle genannt. Bitte beachten Sie, dass es bei manchen Begriffen auf den Kontext und die Betonung ankommt.
abgelehnt, abgeschnitten, akzeptiert, allein gelassen, an den Pranger gestellt, an die Wand gestellt, angegriffen, attackiert, ausgebeutet, ausgenutzt, ausgeschlossen, ausgestoßen, beachtet, bedroht, belästigt, beleidigt, belogen, benutzt, beschuldigt, beschützt, bestätigt, bestraft, betrogen, bevormundet, deplatziert, diskriminiert, dominiert, entmutigt, enttäuscht, erdrückt, erniedrigt, ernst genommen, festgenagelt, frustriert, gedrängt, geehrt, gelangweilt, geliebt, gemaßregelt, gemobbt, gequält, geschmeichelt, gesehen, getäuscht, gewürdigt , gezwungen, gut beraten, herabgesetzt, herein gelegt, hintergangen, ignoriert, im Mittelpunkt, in die Ecke gedrängt, in die Enge getrieben, isoliert, kleingemacht, lächerlich gemacht, manipuliert, minderwertig, missachtet, missbraucht, missverstanden, nicht anerkannt, nicht ehrlich behandelt, nicht einbezogen, nicht ernst genommen, nicht geliebt, ungerecht behandelt, nicht gesehen, nicht respektiert, nicht unterstützt, nicht verstanden, nicht wertgeschätzt, provoziert, reingelegt, sabotiert, schikaniert, schlecht behandelt, schön, sympathisch, totgequatscht, über den Tisch gezogen, überfordert, übergangen, überlistet, unerwünscht, ungehört, ungeliebt, unter Druck gesetzt, unterbezahlt, unterdrückt, unverstanden, unwichtig, verärgert, verarscht, verfolgt.
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