Empathie Experiment 1: An der Ampel

03. Dezember 2012

Neulich überquere ich auf dem Weg zur Post eine rote Fußgängerampel. Kein Auto weit und breit und ich habe es eilig. Da ruft eine Männerstimme aus weiter Entfernung: „Was sind sie denn für eine Type? Bei Rot über die Ampel. Sie haben wohl keine Kinderstube genossen!“ Das Geschrei nimmt gar kein Ende. Ich drehe mich um und denke: Verkehrserziehung durch einen Mitbürger? Das gibt es doch nicht. Nicht in Berlin, wo die Verrückten wohnen. Wer brüllt denn da so? Der Gang zum Supermarkt entwickelt sich zu einem verschäften Empathie Experiment.

Wolf Ampel Empathie Experiment Al Weckert

Empathie Experiment Ampel-Überquerung: Die Protagonisten

Ich sehe einen Mann und eine Frau mit einem Hund an der Leine, die die inzwischen grüne Ampel überqueren. Der Mann schimpft weiter und schaut sich zornig um. Ich beginne zu lachen. Doch im selben Moment frage ich mich: Warum lache ich eigentlich? Eigentlich ärgere ich mich doch. Ich kann es absolut nicht leiden, angeschrien zu werden. Noch weniger kann ich es leiden, wenn ich belehrt werde.

Vielleicht soll mein Grinsen dem Pärchen zeigen: Es kümmert mich nicht, dass ihr schreit. Ihr benehmt Euch lächerlich! Spott und Hohn liegt mir auf der Zunge, ich kann die aufsteigende Aggression körperlich fühlen. Ein inneres Gegenangriffsprogramm ergreift Besitz von mir. Wo ist mein Colt, mein MG? Und je heftiger ich innerlich wüte, desto stärker spüre ich, dass ich mich damit total unwohl, hilflos und von mir selbst entfremdet fühle.

Höhepunkt des Empathie Experiment: Willkommen in der Refraktärphase!

Erst im Einkaufscenter lasse ich die naheliegende Frage zu: Was wollte der Mann eigentlich? Was für ein Anliegen steckt hinter seinen Verbalattacken? Haben auch solche Typen ein „lebensdienliches Anliegen“, wie Marshall Rosenberg es nennen würde? Plötzlich beunruhigt mich die Erkenntnis: Obwohl ich mich professionell mit Empathie beschäftige, habe ich mindestens drei Minuten bis zum Perspektivwechsel gebraucht. Andererseits ist das ja nichts biologisch Ungewöhnliches. Diese Zeitspanne wird unter Kommunikationswissenschaftlern als „Refraktärphase“ bezeichnet.

In der Refraktärphase spulen wir – ähnlich wie Roboter – innere Programme ab, die wir als Kinder als hilfreich abgespeichert haben. Ich bedauere allerdings, während der Refraktärphase ein spannendes Empathie Experiment verpasst zu haben. Ich hätte den Mann fragen können, worum es ihm geht. So absurd es wirken mag: Vielleicht hätte sich die Situation geklärt. Ich stelle mir vor, ich hätte den Mut zu einem Empathie Experiment, und wie es wäre, wenn ich ihn wieder sähe und ihn noch einmal darauf ansprechen könnte.

Zweite Chance für ein ausgefallendes Empathie Experiment

Zehn Minuten später, mit Bargeld in der Tasche und Fischfutter unterm Arm bietet sich mir schneller als erwartet die Chance für Empathie Experiment. Das Paar mit dem Hund läuft mir auf dem Rückweg entgegen. Bin ich mutig? Ich schnappe tief Luft und steuerte geradewegs auf den Mann zu, der mich angeschrien hat. In den Augen seiner Frau sehe ich die Angst aufleuchten. Sie lässt seinen Arm los und weicht auf den Grünstreifen aus. Ich bleibe vor ihrem Mann stehen und starte mit ruhiger Stimme mein Empathie Experiment: „Wären Sie bereit mir zu sagen, warum Sie mich eben angesprochen haben?“

Bei einem Empathie Experiment sind eiserne Nerven gefragt…

Da poltert er los: was für ein Depp ich sei und dass Typen wie ich für alles Schlechte in der Stadt verantwortlich sind. Ich bleibe ganz ruhig, besinne mich auf die Haltung für mein Empathie Experiment und frage gezielt nach: „Was hat Sie denn daran so beunruhigt, dass ich bei Rot über die Straße gegangen bin?“ Für diese Frage ernte ich eine weitere Reihe verbaler Abwertungen. Ich lasse aber nicht locker, denn ich will zum Kern des Empathie Experiment: „Kann es sein, dass Sie sich um irgendjemand Sorgen machen? Vielleicht die anderen Autos oder die Kinder?“

Das Empathie Experiment scheint sich zu einem Erfolg zu entwickeln…

Volltreffer! Er zeigt mir seine braunen Zähne. „Natürlich mache ich mir Sorgen um die Kinder. In diesem Kiez gibt es zwei Ampeln, wissen Sie wie oft an dieser Ecke was passiert?“ Ich bin froh, endlich mit ihm ins Gespräch zu kommen. Diese Antwort – finde ich – war das Empathie Experiment und die damit verbundene Überwindung wert. Ich kann seine Gedanken jetzt besser nachvollziehen, er wirkt auf mich sofort menschlicher und ich schaue ihn dankbar an: „Ich verstehe. Sie habe mich gesehen und sich spontan Sorgen um die Kinder gemacht.“ Nun ist er für einen Augenblick verdutzt und nachdenklich. Er nickt. Ich freu mich über den kleinen Erfolg mit dem Empathie Experiment.

Mein Empathie Experiment: Das Beste kommt zum Schluss

Dann ergänzt er: „Meinen Sie etwa, ich mache mir Sorgen um sie? Wenn Sie überfahren worden wären, hätte ich Beifall geklatscht. Ich hätte nicht mal einen Krankenwagen geholt.“ Bei diesen Worten entfernt er sich schnell auf zehn Meter Sicherheitsabstand. „Ich freue mich, wenn Leute wie Sie überfahren werden. Sie sind ein schlechtes Vorbild.“ Wieder bin ich sprachlos. Manchmal kommt mir das Leben wie ein Spiel vor, in dem man von Level zu Level geschickt wird. Und wie heißt es so schön? Das Beste kommt zum Schluss!

Neugierig geworden?

[Möglichkeiten, um Ihre eigenen Empathie-Fähigkeiten zu trainieren, finden Sie z.B. in meinen Seminaren “Berufsbegleitende Ausbildung Mediation“, “Der Tanz auf dem Vulkan (Umgang mit starken Gefühlsäußerungen)“, “Grundlagen der Gewaltfreien Kommunikation” und “Methodenkoffer Empathie“.]

Wissenschaftliche Hintergründe zum Empathie Experiment finden Sie bei Wikipedia