Empathie-Training
Organisationsentwicklung
Konfliktmanagement
Lässt sich eine einfühlsame Grundhaltung erlernen?
von: Al Weckert
in: Die Schwester/Der Pfleger 6/2011, S. 540-543 [795 KB]
Es gibt nichts, was mehr über das Gelingen zwischenmenschlichen Umgangs entscheidet, als die Fähigkeit zur Empathie. Aus diesem Grund investieren immer mehr Pflegeeinrichtungen in die gezielte Förderung einer einfühlsamen Grundhaltung. Andere behaupten, dass Empathiefähigkeit ein Naturtalent ist. Wissenschaft und Praxis zeigen, dass beide Seiten Recht haben. Menschliches Handeln wird von der Sehnsucht nach Verbindung und Entwicklung angetrieben. Die Basis für empathische Kommunikation ist das Training einer bedürfnisorientierten Sprache.
Pflegekräfte sind außergewöhnlichen Arbeitsbelastungen ausgesetzt. Sie bewältigen ein gewaltiges Arbeitspensum und benötigen dafür eine entsprechende Arbeitshaltung. Sie tragen Verantwortung und verfügen über entsprechende fachlich-theoretische Kenntnisse. Auch unter Zeitdruck und in schwierigen Situationen müssen sie ihr Wissen zuverlässig abrufen können. Sie beweisen ihre Teamfähigkeit tagtäglich im Umgang mit anderen Berufsgruppen und Institutionen.
Pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige sprechen jedoch erst dann von guter Pflege, wenn sie sich über die genannten Leistungen hinaus auch angenommen und verstanden fühlen. Empathie ist das Fundament einer wertschätzenden Haltung, die sich durch menschliche Zuwendung und eine einfühlsame Sprache ausdrückt. Die Ausbildung von Schwestern und Pflegern kann durch gezieltes Training empathischer Kommunikation wirkungsvoll und nachhaltig bereichert werden.
Empathie ermöglicht es, sich spontan in die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen einzufühlen. Diese Fähigkeit wird Pflegekräften unzählige Male am Tag abgefordert: beim Aufnahmegespräch, im Rahmen der Übergabe, im Umgang mit einem unzufriedenen Patienten oder beim Überbringen trauriger Nachrichten. Erst durch gegenseitige Einfühlung entsteht bei den Beteiligten Sicherheit und Vertrauen, die sie auch in schwierigen Situationen konstruktiv handeln lassen.
Beispiel 1: Der Pfleger ärgert sich über den Zustand eines Gemeinschaftsraums, in dem am Ende des Wochenendes benutzte Gegenstände und Lebensmittelreste verstreut liegen. Anstatt die Patienten an ihre Pflichten zu erinnern und mit Konsequenzen zu drohen, erzählt der Pfleger ihnen, was er sieht und wie es ihm damit geht. Er äußert Verständnis für den Spaß, den die Patienten bei der Nutzung des Raumes gehabt haben und seinen Wunsch, diesen Raum am nächsten Tag erneut den Patienten zum gemeinsamen Spielen und Erholen zur Verfügung stellen zu können. Er bittet die Patienten, ihn dabei zu unterstützen, die Möglichkeit dafür durch gemeinsames Aufräumen wieder herzustellen. Alle machen sich gemeinsam an die Arbeit.
Konflikte entstehen praktisch immer aus fehlendem gegenseitigem Verständnis und nicht – wie es vielleicht zunächst scheinen mag – aus unüberwindbaren Interessensgegensätzen. In unserem Gehirn sind Tausende von Erinnerungen abgespeichert, die zusammengenommen unsere Erfahrung abbilden. Aus dieser Erfahrung heraus reagieren wir auf bestimmte Umstände gereizt. Wenn wir uns ärgern, beschränken wir unsere Wahrnehmung auf Beobachtungen, die unser Feindbild stützen. In Notsituation verleiht uns diese Fähigkeit besondere Entschlossenheit. In 98 % aller Alltagssituation gibt es allerdings eine überlegene Alternative: Wenn wir verstehen, dass die Handlungen unseres Gegenübers zwar so wirken, als wenn sie gegen uns gerichtet sind, aber in Wirklichkeit nur der Erfüllung ganz verständlicher Bedürfnisse dienen, können wir unseren Ärger und unsere Wut kontrollieren. Denn es gibt vielleicht andere Wege, dass sich unser Gegenüber seine Bedürfnisse erfüllt, ohne dass dies auf unsere Kosten geht.
Beispiel 2: Ein neuer Kollege kommt ins Pflegeteam. Der Kollege fühlt sich unwohl und beklagt sich bei Mitarbeitern über den Zustand auf Station. Weitere Kollegen stimmen in seine Schulzuweisungen gegenüber der Leitung ein. Die Stimmung auf Station kippt. Zwei Pflegerinnen sprechen den Konflikt in der monatlichen Teamsitzung an. Ihnen ist es wichtig zu verstehen, wo der Ärger des neuen Kollegen herkommt. Sie möchten zu guter Teamarbeit zurück finden. Es stellt sich heraus, dass der Kollege im Rahmen einer Personalknappheit versetzt wurde und seine Familie kaum noch sieht. Er möchte, dass der Schichtplan ihm ein intaktes Familienleben ermöglicht.
Empathie hilft uns also zum einen, mit anderen Menschen in eine gute und tiefe Verbindung zu kommen, sowie zum anderen uns nicht in unangenehme Gefühlszustände, die aus der Erinnerung an frühere Ereignisse stammen, hineinzusteigern.
Darüber hinaus unterstützt uns Empathie dabei, mit eigenen starken Gefühlen und lebenswichtigen Bedürfnissen in Kontakt zu sein. Selbstempathie ist eine entscheidende Ressource zur Bewahrung der eigenen Arbeitszufriedenheit. Sie schützt vor Selbstüberforderung und Hilflosigkeit, die bei professionellen Helfern immer häufiger auftritt und einen idealen Nährboden für das Burnout-Syndrom bietet.
Oft wird Empathiefähigkeit mit Selbstlosigkeit verwechselt. Das Gegenteil trifft den Kern. Die Grundlage für einen empathischen Umgang mit anderen ist ein empathischer Umgang mit uns selbst. Indem wir täglich üben, in uns hinein zu spüren und zu fühlen, wie es uns geht und was wir brauchen, wächst auch das Verständnis für die Bedürfnisse anderer.
Beispiel 3: Ein Pfleger ist unzufrieden mit seiner Arbeitssituation. Selbsteinfühlung bedeutet sich zu fragen: Was brauche ich, um zufrieden arbeiten zu können? Verlässlichkeit im Team? Vertrauen in meine Fähigkeiten? Was würde ein Wechsel für mich bringen: Entlastung oder mehr Erfolg? Was würde ein Gespräch mit meinen bisherigen Chef bringen: Klärung und Feedback? Selbsteinfühlung ermöglicht einen besseren Zugang zu den eigenen Bedürfnissen (z.B. Verlässlichkeit, Beachtung), der anschließend unterschiedliche Lösungswege eröffnet (Feedbackgespräch, neuer Aufgabenzuschnitt, eventuell Arbeitsplatzwechsel …).
Eine bedürfnisorientierte Sprache führt dazu, dass uns andere mit mehr Bereitschaft zuhören, weil sie verstehen, wie wir fühlen und was wir brauchen. Bedürfnisse, über die wir in Ich-Botschaften sprechen, kennt unser Gegenüber aus anderen Zusammenhängen von sich selbst. Er kann uns offen zuhören, weil wir ihn weder anklagen noch verurteilen.
Gleichzeitig dienen wir unserer Umwelt mit einer bedürfnisorientierten Sprache als Vorbild. Wenn wir gegenüber Patienten oder Pflegefällen deutlich aussprechen, worum es uns bei unpopulären Maßnahmen wirklich geht, steigt die Bereitschaft der Betroffenen uns zu unterstützen. Gleichzeitig motivieren wir Patienten und Pflegefälle dazu, ihre Bedürfnisse uns gegenüber und untereinander auszusprechen.
Beispiel 4: Die Pflegerin übt bei Konflikten in ihrer Patientengruppe durch die tägliche Wiederholung von vier Leitfragen („Was ist da passiert, was haben Sie gesehen?“, „Wie ging es Ihnen in diesem Augenblick?“, „Was hat Ihnen gefehlt, was hätten Sie gebraucht?“ und „Gibt es etwas, worum Sie Herrn X/Frau Y jetzt bitten wollen?“) das Aussprechen eigener Interessen. Nach einiger Zeit beginnen die Patienten auch unaufgefordert und abseits von Konfliktsituationen von ihren angenehmen oder unangenehmen Gefühlen zu sprechen. Sie erleben, wie gut sich das Aussprechen eigener Interessen anfühlt und wie diese Form des Selbstausdrucks ihre Lebenssituation verbessert.
Bei der Behandlung vertieft empathische Kommunikation den Informationsaustausch mit dem Patienten und damit die Behandlungsqualität. Patient und Behandelnder kooperieren enger miteinander („Compliance“). Die Teilnahme des Patienten an Entscheidungen („Shared Decision Making“) hat positive Effekte auf die Erreichung der Behandlungsziele .In jüngster Zeit äußern immer mehr Führungskräfte der Pflege Eigeninteresse an entsprechenden Fortbildungen. Wer sich in schwierigen Situationen Klarheit über die Bedürfnisse der eigenen Person, der Mitarbeiter und der Organisation verschafft, trifft bessere Entscheidungen und erhält in der Regel einen Vertrauensvorschuss seiner Umwelt.
Neurobiologen haben in den vergangenen Jahren u.a. durch die Entdeckung der Spiegelneuronen gezeigt, dass das menschliche Gehirn auf Kooperation programmiert ist. Wie empathisch wir uns konkret verhalten, wird überwiegend durch unsere Biografie und unsere Lebensumstände beeinflusst.
Beispiel 5: Eine Pflegerin empfängt eine Mutter mit ihrem 15-jährigen Sohn auf Station. Sie hört der Mutter aktiv zu. Wenn die Mutter den Kopf senkt, beugt sie sich ein wenig nach vorne, wenn die Mutter von ihrer Hoffnung spricht, beginnt sie zu lächeln und richtet sich wieder auf. Ihre Körpersprache spiegelt ganz natürlich und empathisch das Gesagte. Die Pflegerin kommt mit Leichtigkeit in einen einfühlsamen Kontakt. Der Sohn sitzt mit verschränkten Armen daneben. Die Pflegerin spürt Unruhe. Sie hat einen Sohn im selben Alter, für den sie berufsbedingt wenig Zeit findet und der sich immer stärker von zu Hause entfernt. Der fremde Junge spiegelt ihr die eigene Hilflosigkeit als Mutter. Ihm gegenüber fällt ihr ein empathischer Kontakt wesentlich schwerer. Wenn wir uns solche inneren Vorgänge bewusst machen, steigern wir unsere Handlungsfähigkeit auch in schwierigen Situationen.
Die moderne Leistungsgesellschaft lehrt uns eine Sprache voller Werturteile. Bereits im Babyalter werden unsere Gefühlsäußerungen häufig übersehen oder in den Kategorien der „Großen“ falsch interpretiert. Im Kindergarten und in der Schule lernen wir, dass Gehorsam und Anpassung wichtiger als der eigene Rhythmus und bedingungslose Zuwendung sind. Als Erwachsene haben die meisten Menschen nur noch einen sehr indirekten Zugang zu ihren wahren Gefühlen, einige wichtige Bedürfnisse sind seit Jahrzehnten im Dauermangel. Die Anzahl psychisch erkrankter Arbeitnehmer und die Zahl der Krankschreibungen steigt Jahr für Jahr. Der Pflegebereich ist von dieser Entwicklung besonders stark betroffen.
Dieser Trend lässt sich durch systematisches Training von Empathiefähigkeit teilweise umkehren. Workshops zum Thema Empathie beginnen mit Übungen zur Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung bei inneren Spannungen und Konflikten. Erst wenn wir unsere Gefühle spüren, öffnen wir uns für einen klaren Selbstausdruck bei Ärger, Frust, Irritation und eigenen Wünschen. Schritt für Schritt eignen wir uns die Fähigkeit an, auch schwierige Dialoge erfolgreich zu führen.
Beispiel 6: Eine Praxisgemeinschaft bucht für eine Personalentwicklungsmaßnahme ein dreitägiges Grundlagentraining für empathische Kommunikation. Anhand eigener Fallbeispiele trainieren die Teilnehmenden ihre Fähigkeit, über eigene Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und anderen empathisch zuzuhören. Die Praxis profitiert von der Maßnahmen durch bessere Zusammenarbeit, ein gesünderes Arbeitsklima und zufriedenere Patienten.
Für Führungskräfte sind die allparteiliche Leitung von Sitzungen und der einfühlsame Umgang mit Widerständen und Eskalation in Gruppensituationen spannend. Wie kann ich Grenzen mit Klarheit ausdrücken, ohne beim Gegenüber Schaden, Gesichtsverlust, Druck oder Schuldgefühle auszulösen? Wie kann ich, wenn der Dialog nicht ausreicht, beschützend Macht ausüben und dabei trotzdem Einfühlung in die Bedürfnisse der Beteiligten zeigen?
Für Mitarbeiter der Pflege stellt der Umgang mit starken Gefühlen das Ansprechen von kalten und heißen Konflikten unter Kolleginnen und in Teams ein besonders interessantes Thema dar. Viele Pflegekräfte möchten lernen „Nein“ zu sagen, ohne aus dem empathischen Kontakt zu gehen. Sie möchten Sicherheit und Authentizität beim empathischen Selbstausdruck erlangen und damit ein vertrauensvolles und unterstützendes Verhältnis zu Kollegen, Patienten, Pflegefällen und deren Angehörigen aufbauen.
Das Training der Empathiefähigkeit sollte zu Ausbildungsgängen von Pflegeeinrichtungen verbindlich dazu gehören. Außerdem kann es als fester Bestandteil der innerbetrieblichen Weiterbildung etabliert werden (z.B. zu Themen wie „Selbsteinfühlung“, „Umgang mit starken Gefühlen“ oder „empathisch vermitteln“).
Beispiel 7: Die psychiatrische Abteilung eines großen Krankenhauses beschließt, alle Mitarbeiter im Rahmen einer Organisationsentwicklungsmaßnahme im Bereich der Empathie zu schulen. Außerdem werden über den Zeitraum von einem Jahr 16 Mitarbeiterinnen von unterschiedlichen Stationen zu Trainern für empathische Kommunikation ausgebildet. Diese Mitarbeiterinnen werden ihr Wissen zukünftig intern weitervermitteln.
Ausbildungsmaßnahmen im Bereich der Empathie lassen sich mit Teamentwicklungsmaßnahmen und Zielfindungsworkshops kombinieren. Dort kommen schwierige Themen auf den Tisch und führen zu wirkungsvollen Strukturveränderungen.
Beispiel 8: Im Rahmen der Weiterbildungsmaßnahme eines Pflegeheims stellen die Mitarbeiter fest, dass die verschiedenen Abteilungen kaum miteinander vernetzt sind. Sie beschließen regelmäßige Runden zum hausinternen Austausch. Bereits nach wenigen Monaten profitiert das gesamte Haus von den vielfältigen Folgen einer besseren Vernetzung (Informationsaustausch, gemeinsame Ressourcennutzung usw.).
Schwerwiegende Konflikte innerhalb von Pflegeteams lassen sich durch Mediation bearbeiten. Mediation ist ein Verfahren, das die Bedürfnisse der Konfliktparteien heraus arbeitet und nach Lösungen sucht, die die Bedürfnisse aller Konfliktparteien befriedigen. Gerade in komplexen Arbeitssituationen, wo es kein „richtig“ oder „falsch“, sondern viele unterschiedliche Interessen gibt, ist Mediation als einfühlsames Vermittlungsinstrument höchst wirksam.
Die überragende Bedeutung von Empathie für den Pflegealltag ist offensichtlich. Empathie erhöht die Arbeitszufriedenheit im Team, beschleunigt dem Heilungsprozess von Patienten, verbessert das Verhältnis zu Angehörigen und externen Experten und dient der Senkung von Konfliktkosten. Indem wir eine bedürfnisorientierte Kommunikation üben, verändern wir unser Arbeitsumfeld. Wir tragen zu gegenseitiger Wertschätzung, Verbindung und Entwicklung bei.
(c) Al Weckert 2011
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